Plötzlich sind also alle Charlie? Netanyahu, Merkel, Hollande, Rajoy, Samaras… Alle total Charlie. Gestern noch Gesetze zum Verbot nicht angemeldeter Demonstrationen unterzeichnet, Blendgranaten auf Demonstranten geschossen, das Militär auf streikende Kollegen gehetzt oder palästinensische Siedlungen bombardiert, heute Charlie. Sorry. Nö. Und auch wenn wir ein kleines bisschen mehr Charlie sind, als das genannte Pack, so sind wir doch noch weit weg davon, Charlie zu sein.

Wir sind nicht Charlie. Auch wenn wir selbstverständlich unsere Trauer in Facebook mit dem „Je suis Charlie“-Badge gezeigt haben. Wir haben uns erschreckt, wir haben mitgefühlt und wir wollten deutlich machen, dass der Angriff auf eine Redaktion ein Angriff auf alle Redaktionen ist – ein Anschlag auf die Menschlichkeit. Aber wir sind nicht Charlie. Sicher mehr Charlie, als viele, die plötzlich Charlie waren, die im Kleinen oder im Großen jederzeit jeden nur denkbaren Angriff auf die Meinungs-, Demonstrations- und jede künstlerische Freiheit tätigen. Aber eben nicht annähernd so konsequent und unbeugsam wie die Redakteure/-innen von Charlie Hebdo.

Ein Artikel, der sich auf ein Ereignis bezieht, in dem Menschen ums Leben gekommen sind, ist niemals leicht. Und wenn dieses Ereignis eine solche Aufmerksamkeit erfahren hat, wie der Anschlag auf Charlie Hebdo, dann schon gar nicht. Trotzdem sind Fragen offen und es gibt Irritationen. Es gibt kleine und große Charlies, die rein gar nichts mit den Ideen jener am Hut haben, die sie da plötzlich betrauern oder zitieren.

Zu den kleinen Charlies gibt es demnächst mehr, denn diese sind für uns konkreter und „gefährlicher“, als die großen Charlies: Die Politiker-/innen, die sich plötzlich zur Speerspitze der Presse- und Meinungsfreiheit machen, die sie so erfolgreich und konsequent bombardieren. Die mit Geheimdiensten, Kameras und Spionagesoftware dafür sorgen, dass keine unserer Äußerungen und keiner unserer Schritte unbeobachtet bleibt. Oder besser, dass sich nichts davon mehr so anfühlt, als sei es unbeobachtet. Denn wenn dann trotzdem schwer bewaffnete Männer durch Paris fahren und in eine Redaktionskonferenz an einem geheimen Ort einreiten können, wird man sich fragen dürfen, wozu der dauernde Entzug von Freiheit eigentlich gut sein soll. Der Entzug, nach dem nun die prominenten Trauernden noch etwas lauter rufen und der in Frankreich inzwischen mit noch mehr Sicherheitspersonal noch konsequenter vorangetrieben wird. Logisch, wenn eine Medizin offenbar nicht wirkt, erhöht man die Dosis.

Diese Medizin – die Überwachung durch die NSA ebenso wie die vielen Anzeigen gegen kleine und große Redaktionen – zeigt aber eine fatale Nebenwirkung. Die meisten von uns schreiben vorsichtiger oder anders als sie es täten, wären wir tatsächlich frei. Natürlich, Freiheit lässt dann auch manches zu, das platt, dumm und vulgär ist – das kann man in vielen Kommentaren in Facebook oder auf Webseiten, die solche zulassen sehen. Und wenn es das ist, macht es keinen Spaß derlei zu lesen. Klagen oder schießen muss man freilich nicht. Und es ist um so verrückter und verschrobener, dass so das Vulgäre, das Belanglose und Dumme die Oberhand gewinnt, weil jene, die wirklich etwas zu sagen haben, vorsichtiger werden.

Dabei sind die größten Verfechter und Verabreicher dieser Medizin nun ausgerechnet jene, die am lautesten über Charlie trauern. Eben jene Merkels, Rajoys, Netanyahus und der, ach so zu seinem Bedauern verhinderte, Obama, im Chor mit Rassisten und Kleingeistern aller Couleur und Herkunft. Ich weiß nicht wie, wenn nicht zynisch, ich es nennen soll, wenn gestern Lassana Bathily als der Held von Paris seine ersten französischen Ausweis erhielt. Er bemühte sich darum seit 2006 und sicher haben ihm während seines Aufenthalts Menschen vom Schlag der Hebdo-Redakteure/-innen geholfen. Die „Je suis Charlie“-Innenminister und -Ministerpräsidenten Frankreichs waren sicher keine große Hilfe.

Vielleicht können wir ja künftig bei den Einbürgerungsämtern eine Fast Lane einrichten. Neben den „normalen“ Prüfungen hinsichtlich der Sprachfähigkeiten, der Ausbildung und des Grades der Verfolgung werden dort dann jene blitz-eingebürgert, die ihr Leben für Einheimische auf’s Spiel gesetzt haben. Sicher lässt sich gesetzlich exakt definieren, wie hoch der Gefährdungsgrad sein muss – sonst könnte ja jeder kommen. BÄH!

Lassana Bathily ist Charlie. Er hat sich positioniert und er ist bis an sein Äußerstes gegangen, um andere Menschen zu beschützen. Er tat das körperlich. Charlie Hebdo, die Titanic und viele andere große und kleine, nicht-systemgefällige Magazine, Sender, Blogs und Webseiten tun es, indem sie Missstände aufdecken, sei es indem sie sie anprangern oder sich über sie lustig machen. Ich bin nicht Charlie. Ich würde dem Druck von Morddrohungen und Brandanschlägen sicher nicht standhalten. Und schon gar nicht – und dieser Vergleich hinkt unglaublich – wäre ich in der Lage nach einem Ereignis wie dem Attentat auf die Charlie-Hebdo-Redaktion so unglaublich konsequent weiterzumachen. 

Wesentlich geringere Angriffe auf unsere Freiheit haben uns bis zur Wortlosigkeit aus dem Konzept gebracht – mehr dazu in wenigen Wochen. Wir sind nicht Charlie. Wir sind gerade dabei, unsere Worte wiederzufinden. Das sind wir uns und unserer Empörung schuldig. Wir wissen: wenn aus Empörung und Entsetzen nicht Haltung und Positionierung wird, dann bleibt das Emotionale wertlos. Charlie Hebdo gilt unser Respekt. Weitermachen, entschlossener und unbeugsamer, nicht zu zulassen das Angst die Seele auffrisst, sich nicht vereinnahmen lassen und falsche Freunde als solche benennen und entschieden zurückweisen.

Je suis Charlie!