Menschlichkeit in Zeiten von Stadtfesten

Ich schwanke zwischen panischem Entsetzen, ungläubigem Erstaunen und hysterischem Kichern, während ich nach einer kurzen Abwesenheit aus Deutschland die Ereignisse in #Chemnitz der letzten Woche rekapituliere. Spontan komme ich mir vor wie in einem Raum voller Kleinkinder – alle schreien durcheinander, jeder will seinen Kopf durchsetzen, nötigenfalls wird Gewalt gebraucht, und wer am lautesten brüllt, gewinnt.

Am lautesten wird jetzt hoffentlich erst einmal #wirsindmehr. So ein Freiluft-Konzert hat ja große Anziehungskraft, und das Aufgebot der musikalischen Darbietungen lässt sich gut lesen. Als ich #Kraftklub zuletzt gesehen habe, waren sie jedenfalls im Umkreis einiger Kilometer nicht zu überhören. Doch leider: So einfach ist es nicht, für niemanden.

Es war also Stadtfest in Chemnitz, die Stadt feiert, könnte man meinen. Doch wie das bei Stadtfesten so ist – es wird spät, manchmal fließen Alkohol und Testosteron im Übermaß, es reicht ein mehr oder weniger kleiner Funke, um einen ordentlichen Flächenbrand zu entfachen. Um 3:15 Uhr in der Nacht eskaliert zwischen einigen Männern ein Streit, dessen Ursprung bis hierhin nicht bekannt ist, auf einmal ist mindestens ein Messer im Spiel, es gibt Verletzte, und am Ende stirbt einer der Beteiligten. Es gibt Festnahmen, mutmaßlich verdächtig sind zwei Idioten, die der Kraft ihrer Fäuste offensichtlich nicht vertrauten. Und ja, das waren möglicherweise ein Iraker und ein Syrer.

Ich wundere mich. Das sind ja wenige Fakten.

Worüber wir nicht streiten müssen, ist die Tatsache, dass das schrecklich ist und auch völlig unnötig war. Wofür es in den letzten Tagen genutzt wurde und wird, ist so grausam wie fehlgeleitet. Die sächsische Polizei höchstselbst bat in den Online-Netzwerken darum, sich am Gerüchtekochen nicht zu beteiligen, doch das ist der AfD und den ihr verbundenen rechtsextremen Randgruppen egal, um nicht zu sagen lästig. Ein Toter wird zum heroischen Beschützer der armen, deutschen (und bis heute weder näher beschriebenen noch bekannten) Frau hoch stilisiert, die er vor den „gewalttätigen Scheiß-Migranten“ verteidigt haben soll. Man könnte meinen, er ließ sein Leben bei der Verteidigung von Ehre und Vaterland. Ein Mann, der bislang selbst immer wieder Position gegen rechtsradikales Gedankengut bezog, wird zum Mahnmal besorgten deutschen Gutbürgertums. Schwupps, eine Demonstration jagt die nächste, alle schreien, niemand hört zu, keiner denkt mehr, alle durcheinander.

Sach-Diskussion? Fehlanzeige. Vor allem der besagte – besorgte – deutsche Wutbürger nimmt, was er braucht und nutzt es für seine eigenen Ziele, bauscht es auf und verändert nach Belieben die Färbung, streut ein paar Gerüchte darüber und verbreitet diese Fake-Hate-News als Realität. Ein Haftbefehl wird öffentlich gepostet (was an sich einen Straftatbestand darstellt), Selbstjustiz wird über Nacht zum Selbstläufer, Demonstrationen eskalieren mit Ansage, rechtsextreme Hooligans rufen zu Gewalt gegen Menschen auf, ich lese von Menschenjagd in der Chemnitzer Innenstadt, und unsere politische Führungsebene hat dafür nicht mehr übrig als ein paar bestürzte Kommentare. Nachfragen unerwünscht: jeder halbwegs sachliche Kommentar wird als Angriff auf die Meinungsfreiheit der rechtsradikalen Idioten gewertet und auch so geahndet, Beleidigungen und verbale (Mord-) Drohungen sind an der neuen Tagesordnung.

Während mir das alles durch den Kopf geht, sitze ich mit Freunden am Küchentisch und wir treffen Verabredungen fürs Wochenende. Uns geht es gut. Also, ich meine: Es geht uns wirklich gut. Niemand muss hungern oder frieren, wir haben ein Dach über dem Kopf, wir können uns auch ein Stück Käse mehr leisten, wir fahren hin und wieder in Urlaub, wir sind gesund und wir haben das Recht uns frei zu bewegen und unsere Meinung zu sagen. Wir werden nicht ins Gefängnis gesteckt, wenn wir zu einer Demonstration gehen; wir haben Zugang zu allen möglichen Informationen (wir können Fake-News als solche entlarven, wenn wir wollen!); unsere Kinder leben im sichersten Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg und ich als „deutsche Frau“ kann mich recht angstfrei zu jeder Tages- und Nachtzeit auf die Straße trauen.

Ein Freund liest den Tweet von #wirsindmehr vor, und mir wird klar: Wir können hier nicht mehr nur so rumsitzen und entrüstet sein. Wir müssen aufstehen. Wo Maß und Ziel derart verloren gehen wie in Chemnitz dieser Tage und wo Rechtsextremisten ihre eigene Realität zur Legitimation ihrer Gewaltverherrlichung erschaffen, da kann ich nicht mehr einfach nur den Kopf schütteln, danach das Glas heben und mein Leben super finden. Frau Merkel hat gesagt: „Was wir hier gesehen haben … darf in einem Rechtsstaat keinen Platz haben.“ Soso. Und außer besorgt die Hände zusammenlegen und etwas traurig schauen, was bedeutet das? Bestürzung ist keine Haltung, liebe Kanzlerin.

Jetzt gilt: Aufstehen, rausgehen, und es allen sagen. Hier ist niemand willkommen, der so mit Menschen umgeht. Es gibt nicht „unser (deutsches) Land, unser (deutsches) Recht, unsere (deutsche) Freiheit“, die mit Gewalt verteidigt werden wollen. Mord ist ein Kapitalverbrechen, ja. Ein Mensch ist gewaltsam gestorben, das ist fürchterlich. Eine Familie ist erschüttert, ein Leben wurde zu früh beendet, da wurde jemand einfach weggerissen. Dieser Umstand ist entsetzlich, richtig. Der oder die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden, und das wird passieren. Der Angriff auf die Menschenrechte, auf menschliche Freiheit allerdings, der beginnt da, wo verkürzte Parolen Hass auf Einzelne und ganze Gruppen schüren und aus Mord ein „Angriff auf die deutsche Gesellschaft“ stilisiert wird. Das akzeptiere ich nicht länger mit bestürzt schweigendem Kopfschütteln!

Es kann nicht angehen, dass weiterhin Menschen in Sippenhaft genommen werden – und damit meine ich buchstäblich jeden. Es ist nicht zu rechtfertigen, dass sonntagabends unbedarfte Bürger (möglicherweise nicht minder besorgt) ob ihres „fremdländischen Aussehens“ durch Chemnitzer Straßen gejagt werden; dass Einzelne verharmlost werden, die den Hitlergruß für eine adäquate Form der Höflichkeit halten; dass 24% sächsischer Wähler der Maßstab für die Beurteilung eines ganzen Bundeslands werden; oder dass wir alle einfach betroffen wegschauen, als ob wir es nicht besser wüssten. Denn dann sind wir eben doch schnell wieder in der Situation, in der wir Angst haben und uns weg ducken.

Was es jetzt braucht, sind ein wenig Besonnenheit und eine klare Linie. Lasst uns aufstehen, einen Schritt zurück gehen, durchatmen und die einzelnen Situationen als Teil des Ganzen sehen, die sie sind: Auswürfe rechtsradikaler Gesinnungsbrüder und -schwestern, die Deutschland zurück in eine Zeit wünschen, in der Angst und Schrecken nur das Vorzimmer zum willkürlichen Massenmord waren. Es gilt, damals wie heute: Intolerante Arschlöcher sind intolerante Arschlöcher, daran ändern Farbe der Haut, Sprache oder Glaube nichts. Der Geltungsdrang einiger treibt dabei krasse Blüten, vor denen zudem niemand wirklich sicher ist. Wir täten gut daran, uns hier nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.

Und dieses Konzept sollte lauten: Menschlichkeit zuerst! In allen Belangen sollte es zu allererst darum gehen, dass wir den einzelnen Menschen nicht aus den Augen verlieren. Menschen mit dem Bedürfnis nach Sicherheit, nach Integration, nach Toleranz, nach einem Dach über dem Kopf und Wärme. Ob das unser Nachbar ist oder ein Geflüchteter, spielt dabei keine Rolle, welchen Gott er anbetet, welche Haut- oder Haarfarbe sie hat, ebenso wenig. Menschlichkeit, die uns offensichtlich schon im Kleinen fehlt. Wann haben wir der alten Dame von gegenüber zuletzt die Einkaufstasche getragen oder auf das Kind der Familie zwei Häuser nebenan aufgepasst, dem kranken Kollegen eine Suppe vorbei gebracht? Menschlichkeit bedeutet: sich einfühlen, dem Gegenüber mit Respekt begegnen und die Anliegen anderer anerkennen. Zu Menschlichkeit gehört, eben nicht reaktionär die rechte Hand zu recken und aus dem schwächsten Glied der Gemeinschaft sofort den Sündenbock zu machen.

Stehen wir auf, gehen wir raus, und zeigen wir, dass ein konstruktives Miteinander möglich ist. Wenn das, was wir in Chemnitz erleben, in einem Rechtsstaat keinen Platz haben darf, dann füllen wir eben diesen doch mit Herzlichkeit, mit Toleranz und mit einer klaren Linie gegenüber rechtsradikaler Hetze, nicht nur in Sachsen, sondern an jedem Ort der Republik. Denn egal, wo: #wirsindmehr!