Phantasielos und rückwärts
Der Helmut, der Schmidt, der Altkanzler hat ja mal gesagt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“. Ich würde einige unserer „führenden“ Politiker*Innen unbedingt mal zum Arzt schicken wollen, nur ganz sicher nicht wegen ihrer Visionen. Ich wünschte, jemand hätte welche.
Insgesamt scheint der ganze Begriff – nicht erst durch Schmidt – kaputtgegangen zu sein. Elon Musk gilt als Visionär, wie zuvor Steve Jobs; und Jeff Bezos hält sich wahrscheinlich auch für einen. Die Vision dieser Herren ist/war vor allem obszön viel Geld zu verdienen – nicht so spannend. Und die Visionen unserer politischen wie unternehmerischen Führungskräfte reduzieren sich ebenso auf das Halten des Status Quo plus das Generieren von Wachstum. Mir ist langweilig.
Schlimm genug, dass den Führungskräften nix einfällt, aber dieser Mangel an Phantasie ist offenbar common sense. Stets, wenn jemand eine wirklich gute, spannende Idee hat, bricht die „Wer soll das bezahlen“-Neiddebatte los, in good old Germany. Wenn Unternehmen für ausbleibende Gewinne entschädigt werden sollen, statt die Schäden, die sie angerichtet haben, bezahlen zu müssen, regt sich hingegen wenig bis nichts. Die deutsche Neiddebatte ist glänzend ausgesteuert.
Dass es auch anders geht, zeigen uns die Skandinavier immer wieder gerne, und mir, gerade kürzlich in Artes Re:, die Finnen. Finnland nämlich bekämpft konsequent die Wohnsitzlosigkeit. Und wie es die liebe Art der Skandinavier ist, nicht wie Orban per Verbot. Im Gegenteil, die simple Devise, die sich Finnland hierzu gesetzt hat ist „Housing first“ (zuerst ein Zuhause). Menschen ohne festen Wohnsitz melden sich bei entsprechender staatlicher Stelle und bekommen eine Wohnung, die ein Zuhause sein will und deshalb auch mit Sozialarbeitern in diesen Häusern arbeitet.
„Wer zahlt das?“ schreckt die/der Deutsche auf. Und hier kommt der verrückte Teil, für den es eben ein kleines, ein winziges bisschen Vorstellungskraft braucht und zuerst den Willen eine solche Idee umzusetzen und nicht zuerst die Frage nach den Kosten. Es ist eingepreist. Finnland spart bei jedem/jeder Wohnsitzlosen, der/die von der Straße ist, jährlich 15.000 Euro. Ja do schaugst. Wie gesagt, ist gar nicht so schwierig: es entfallen z.B. Kosten für den Einsatz von Polizei- und Rettungskräften. Mit dieser Zahl vor Augen braucht es dann nicht mehr viel, sich vorzustellen, mit wie viel Geld monatlich man Menschen, die auf der Straße leben müssen, unterstützen kann. Addiert man hierzu einen Spritzer Logik und eine Prise Phantasie, meint das mit dem Zuhause tatsächlich ernst und schafft so eine Umgebung, in der das Zurück-in-die-Gesellschaft plötzlich leicht fällt, dann wird klar: Finnland macht hierbei sogar Plus. Die gesparten 15 Kilo müssen gar nicht re-investiert werden, denn sie sind der Ausweg aus einer Spirale, der man ohne Papiere, ohne Konto, ohne ein Zuhause, auf der Straße zwingend ausgesetzt ist – eigentlich kinderleicht, wenn man nur will.
In Deutschland scheint sowas nicht machbar. Vielleicht isses genetisch oder es ist im Trinkwasser. Cum/Cum, Cum/Ex, Unternehmen zahlen fast keine Steuern und weniger für Strom, die/der Deutsche bleibt ignorant – A ist zu kompliziert und B, da geht’s ja um Arbeitsplätze. Aber sanktionsfreies Hartz IV, da ist Debatte, da ist „die sollen erstmal was leisten“. Dieser idiotische Satz funktioniert in Deutschland beispiellos, und er funktioniert, während um uns herum reihenweise Rentner*Innen in die Altersarmut geraten. Allesamt Menschen, die längst was geleistet haben – schäbig und unrund.
Der Gipfel der Phantasielosigkeit wird hier dann erreicht, wenn es um des Deutschen liebstes Kind geht, die Blechbüchse. Das eigene Auto wird hier als Errungenschaft gefeiert. Unter dieser Prämisse ist dann kaum eine sachliche und gewiss keine phantasievolle Debatte möglich. Weder in Sachen Tempolimit, noch in Sachen kostenloser öffentlicher Nahverkehr. Auch bei diesem nämlich, reden immer alle von den Kosten. Und ich kauf das nicht. Ich – mit dieser Prise Phantasie – stelle mir vor, dass auch der eingepreist ist. Im Übrigen machen es Luxemburg demnächst und Estland seit Jahren vor.
Ich stelle mir also vor, dass der Personennahverkehr eine wartungs- und damit kostenintensive Sache ist – unabhängig davon, ob er voll oder leer fährt. Ich weiß aber auch, dass der Bau und die Instandhaltung von Straßen kostenintensiv sind – allerdings nicht unabhängig davon, ob sie befahren werden oder nicht. Das bedeutet schonmal, dass jedes Auto weniger, Bares in die Kasse der Kommune spült. Weitere offensichtlich wegfallende Kosten sind die durch Feinstaub, Abgase, Gummiabrieb und sonstigen Dreck, den die Kisten so emittieren. Und obendrauf kommen noch all die nicht so offensichtlichen Kosten durch sinkenden Einsatz von Polizei- und Rettungskräften, durch verkürzte Zeiten zum Job, durch weniger gestresste Städte und Stätder*Innen und – wie wünschenswert – wachsende soziale Strukturen. Wer mit Vielen in Bus oder Bahn fährt, leistet es sich eben nicht, sich wie ein Waldschrat aufzuführen, während der Stinkefinger beim Autofahren ja schon zum guten Ton zu gehören scheint.
Zusammengefasst finde ich es furchtbar schade, dass wir uns solch schöne Dinge nicht leisten wollen. Und ich möchte jede*n auffordern, die Debatten für ein schöneres Leben einfach mal unter neuen Prämissen zu führen – in die Zukunft zu blicken, statt immer nur zurück. Dann klappt es vielleicht auch in Deutschland mit kostenlosem ÖPNV oder „Housing first“, statt Kassel Calden, Stuttgart21, Elphilharmonie, BER und anderem nutzlosen Unsinn.