Jetzt wird’s persönlich

Vielleicht habt Ihr Euch gefragt, warum wir uns seit Februar nur noch am Virus reiben. Da ich derjenige bin, der hier hauptsächlich schreibt, gibt es nun eine persönliche, neben der ganz offensichtlichen Erklärung. Denn offensichtlich ist das Virus seit Februar ein derart hochgekochtes Thema, dass manche von uns inzwischen die Nachrichten und/oder Twitter verweigern. Außer Corona und korrupten CDU-Versager*innen liest und hört man ja nix mehr.

Das Virus ist dabei nicht das Problem. Das ist nunmal da und wir müssen damit umgehen, bis wirksame Medikamente und/oder ein Impfstoff verfügbar sind. Was Teile von mir – ganz persönlich – begräbt, ist die unsägliche Kommunikation und sind die größtenteils irrwitzigen Maßnahmen. Darüber schrieben wir in „Das große Versagen“ und „Nebenwirkungen“. Dieses „wir“ ist übrigens ein variables und beschränkt sich nicht auf die Aktiven. Auch unsere Umfelder und sogar Follower*innen auf Twitter sind Teil des „Wir“, selbst wenn sie es gar nicht wissen.

Wir und ich
In diesem Artikel geht es um mich. Auch wenn dieses „Mich“ ohne die verschiedenen „Wir“ gar nicht vorstellbar ist. Und während ich das hier schreibe, sitze ich im Gärtchen und habe mir ein Wasser mit einer frischen Limette gemacht. Ich habe einen großartigen Partner an meiner Seite und ich habe tolle Freunde. Ich bin mir bewusst, dass es mir gut geht und dass die Skala von „es könnte schlimmer sein“ nach unten offen ist. Ich glaube trotzdem, dass ich diesen Artikel schreiben muss. Vielleicht ja auch nur für mich selbst.

Angst?
Wisst Ihr, ich bin eine flirty Frontsau. Prince Charming kann ich, ich lächle Leute an, ich gehe auf Leute zu, ich flirte, baggere, greife über… Ich bin also kein ängstlicher Mensch und schon gar keiner, der Angst vor anderen Menschen hat. Seit Mitte März sitzt Flirty Frontsau im Knast – zuerst fremdbestimmt, jetzt zum eigenen Schutz und zum Schutz anderer. Die absurden Lockerungen helfen dabei gar nicht. Im Gegenteil: Sie machen es nur noch schwerer, denn ich dürfte ja jetzt.

Risiko?
Ich bin kein ängstlicher Mensch aber ich bin auch kein Draufgänger. Ich denke gerne logisch und wäge Risiken ab, bevor ich mich irgendwo hinein stürze. Im Zweifel laufe ich – beruflich wie privat – lieber los, als dass ich mich aufhalten ließe aber das ist im Moment unmöglich. Ja, ich dürfte los, ich dürfte in die Kneipe, ich dürfte Fußball mit Freunden und Bekannten schauen, ich dürfte mich mit bis zu 10 Personen aus den unterschiedlichsten Haushalten an einen Tisch setzen, ich dürfte endlich wieder die Wirte meiner Stammkneipe unterstützen und ihnen die vorherigen Schließungen etwas auffangen. Ich verstehe aber nicht warum, und das macht mich kirre.

Am Anfang der Pandemie
Dieser Absatz wird kein Rückblick: Wir befinden uns am Anfang der Pandemie. Dieser Satz wurde bis in den Mai gebetsmühlenartig wiederholt und nie zurückgenommen – während die Zahlen sanken, während der R-Faktor zurückging. Stets hieß es: „Wir befinden uns am Anfang der Pandemie“. Jetzt höre und lese ich diesen Satz nicht mehr. Was heißt das? Die Zahlen sind auf rekordtief, die Verbreitung ist punktuell und wird relativ sicher gescannt. Zeitlich sind wir am Anfang oder mitten in der Pandemie. Ich meine, nach „dem Anfang“ kommt ja nicht direkt das Ende, und die Fat Lady hat noch lange nicht gesungen.

Mittendrin statt nur dabei?
Also wo stehen wir? Und wie soll ich verstehen, dass wir mitten in der Pandemie sein könnten, ich aber wieder in die Kneipe darf? Und damit zu dem, was mich wirklich verunsichert: Was passiert eigentlich, wenn so’n Superspreader/silent spreader durch die Kneipe gehuscht ist, an dem Tag, an dem ich dort war? Wandere ich dann in Quarantäne, wie derzeit 7000 Gütersloher_innen, die mit Tönnies-Mitarbeiter_innen zu tun hatten? Oder werde ich endlich getestet und kann nach 2 Tagen weitermachen wie zuvor? Mutmaßungen dazu kann ich anstellen – reihenweise – aber wer soll mir diese Fragen beantworten? Die Entscheidungsträger_innen, die von einer Maßnahme in die nächste stolpern, nicht beurteilen können, ob die aktuellen greifen oder ob die künftigen umsetzbar sind? Wohl kaum.

#flattenthecurve
Nachdem ich also über zwei Monate grundvernünftig nur einkaufen war und wir uns maximal zu viert – unter Einhaltung der Abstandsregel – in den Garten gesetzt haben, soll ich jetzt wieder los, den Konsum ankurbeln. Dabei gilt – wie zuvor – dass ich beim Einkaufen nicht hinterlegen muss, wer ich bin, während ich mit unmaskierten Vollpfosten vorm selben Kühlregal stehe, weil Arschloch nicht abwarten konnte, bis ich mich für ein Produkt entschieden habe. Das geht so durch und ging auch während der strengeren Einschränkungen. Wenn ich mich aber in die Kneipe setze, in der höchste Hygienestandards gelten und deren Wirte ausnahmslos alles zu deren Einhaltung beitragen, dann muss ich hinterlegen, wer ich bin und wann ich da war, nicht wissend, was passiert, wenn jemand dort durchrauscht, der positiv getestet wird, selbst wenn die Ansteckung unter den in der Kneipe herrschenden Bedingungen quasi ausgeschlossen ist.

Ich kann das nicht
Das für mich Schlimme dabei ist, ich dürfte. Ich sitze hier also mit Flirty Frontsau und möchte meine Wirte unterstützen, möchte unter Leute, möchte flirten, möchte mit Freunden und Freundinnen trinken, lachen, eskalieren. Ich hab Bock auf all das. Aber ich kann nicht. Vor allem deshalb nicht, weil ich es nicht verstehe und weil sich niemand die Mühe macht, es zu erklären. Bzw. es so zu erklären, dass es mit Logik greifbar würde. Ich werde nicht wegen Lockerungen, die ich nicht verstehe, in eine Quarantäne wandern. Und dabei zerbricht etwas, denn ich bin sonst ein anderer.

Die zweite Welle
Zusätzlich zum nie zurückgenommenen Stadium „Am Anfang…“ ist da dieses ständige Grundrauschen „Zweite Welle“. Auch hiervor sitze ich wie das Kind vorm Dreck. Ist die fest gebucht? Gibt’s schon einen Termin? Ist sie ein Popanz? Und wenn ja, wozu ist der gut? Tun wir alles Nötige, um sie zu vermeiden? Ist sie am Ende unvermeidlich? Wozu dann überhaupt Maßnahmen oder Lockerungen? Es reduziert sich immer wieder alles auf den einen Anspruch: Würdet Ihr Entscheidungsträger_innen mir wohl verfickt noch mal erklären, was Eure Entscheidungen antreibt, wozu sie gut sind, wem sie dienen und womit Ihr – bestenfalls wissenschaftlich fundiert – nun noch rechnet und womit nicht?!

Nie ohne
Ich ziehe jetzt nicht einfach wieder los. Wir haben über Monate die Abstandsregeln eingehalten, ich gehe mit Maske einkaufen, ich ärgere und wundere mich über andere, aber wir ziehen unser Ding durch – Partner, whats-next, SturKnopf, Freund*innen. Unsere Bubble bekommt das hin. Ich bekomme die zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust nur noch schwer hin. Bestimmte Aspekte der Isolation mag ich – z.B. Home Office. Ich bin froh, in einem guten Freundeskreis zu sitzen und einen tollen Partner zu haben. All das ist Gold wert und macht mich glücklich. Ich möchte mir nicht ausdenken, wie es logisch denkenden Menschen ergeht, die mit Depressionen, Ängsten oder Einsamkeit zu tun haben – und Intelligenz geht ja all zu oft mit Störungen einher. Und dennoch: ich ziehe jetzt nicht einfach wieder los.

Umsetzung
Neben der Tatsache, dass sich mir kaum eine Maßnahme jeweils im Vergleich zu anderen logisch erschließt, gibt es einen zweiten großen Vorwurf, den ich den Entscheider_innen machen muss. Versteht mich nicht falsch, keiner hier steht drauf, „geführt“ zu werden oder auferlegten Maßnahmen zu folgen. In Anbetracht eines tödlichen Virus’ sind die Entscheider_innen aber leider von größerer Bedeutung.

Zurück zum Vorwurf: Die Umsetzung der sich nicht erschließenden Maßnahmen ist ein Scheiß-Witz. Während Arztpraxen darum bangen geschlossen zu werden, wenn sie einen positiven Fall melden und lesende Rentner_innen von Parkbänken gescheucht wurden, betreiben die Cool Kids mittlerweile Mutproben in Supermärkten und rauschen ohne Maske durch (also diese betrachten es als Mutprobe, die Gruppe der höchstgefährdeten scheint ohnehin über alles erhaben und schert sich einen Dreck). Und was geschieht? Nix. Vor manchen Supermärkten stehen noch Mitarbeiter_innen, die schauen, dass nicht zu viele Kund_innen drinnen sind, einmal drin kümmert sich keine Sau mehr um irgendwas. In meiner unmittelbaren Nähe ist ein Rewe, der während der härteren Einschränkungen nach allen Maßgaben hätte geschlossen bleiben müssen: Gänge zu klein, niemand zählt die Hereinkommenden, ein paar Aufkleber auf dem Boden als Absichtsbekundung. Witzlos, aber der Konsum muss ja laufen. Ich kenne Kneipen, in denen sich niemand an irgendwas hält. Keine Mundschutze, kein Gästebuch, Abstände – nuja wie es halt passt. Konsequenzen? Nö. Offenbar ja nicht mal Kontrollen. Und sorry, ich bin nicht der Blockwart-Typ. Derlei muss die sonst so eifrige Exekutive schon ohne mich schaffen.

Frontsau bleibt zu Hause
So lange ich die Maßnahmen und ihre Aufhebungen nicht verstehen kann, weil sie keiner Prüfung im Kontext standhalten, so lange die bestehenden Maßnahmen nicht um- und durchgesetzt werden (bzw. je nach Gusto, wenn z.B. die falschen Leute demonstrieren) und so lange ich nicht weiß, in wessen Interesse gehandelt wird und womit wir es nun noch zu tun bekommen könnten oder werden, so lange verhalt ich mich, als seien wir am Anfang der Pandemie oder mittendrin oder mitten in der zweiten Welle. Flirty Frontsau bleibt im goldenen Käfig und weiß nicht genau, was dabei einschläft oder kaputtgeht. Das ist die Verantwortung, die ich mir gegenüber, meinem Partner und meinen Freund_innen gegenüber, selbst Wildfremden gegenüber, übernehme. Wären jene, die aktuell die Verantwortung tragen und die Entscheidungen treffen nur halb so gewissenhaft, dann säße ich nicht hier und fühlte mich blöd, weil ich Menschen nicht so unterstützen kann, wie ich es gerne täte und weil ich Menschen nicht so anflirten, umarmen und küssen kann, wie ich es gerne würde.

Verantwortlich
Die Lockerungen sind so unlogisch und so beschissen kommuniziert, wie die Regelungen zuvor. Die Entscheidungsträger_innen waren und sind keine Hilfe. Die Entscheidung, die Dinge jetzt genauso zu handhaben wie Ende März ist eine autarke, eine verantwortliche. Und wie so häufig im Leben ist eine konsequente Entscheidung nicht gleichsam eine bequeme oder schöne. Ich hadere mit dieser Entscheidung, aber es kann aktuell keine andere geben. Für die selbstgewählte Isolation ist das Virus verantwortlich. Für die Unsicherheit in mir ist eine Politik verantwortlich, die sich nicht um Menschen schert und somit schon gar nicht um Kultur und/oder Spaß, sondern deren gesamtes Augenmerk darauf gerichtet ist, den Export, das BSP und den Profit der Eliten aufrecht zu erhalten.