14 Monate Corona haben Spuren hinterlassen. Wir hören im Radio, dass sich Bürger_innen wieder daran gewöhnen müssen, unbedarft einzukaufen und auszugehen – ja sowas aber auch. Da war ja sooooo lange Lockdown und Beschneidung der Grundrechte, jetzt müssen wir aber wirklich alle mal zum Friseur, so kann mensch ja nicht rumlaufen. Endlich wieder Vollsuff auf Malle. Die armen Menschen haben es zu Hause ja kaum noch ausgehalten.

The small reset

Ich bekomme derweil ein Schreiben des Kultusministers des Landes Hessen, Prof. Dr. Lorz – seines Zeichens Rechtswissenschaftler und tatsächlich seit seinem 12. Lebensjahr Unions-Mitglied (Wir können nicht alle retten). In diesem lese ich, dass ich meine Kinder (ich hätte hier zwei Grundschüler) ob der pandemischen Bildungs-nicht-Lage gerne für dieses Jahr zurückstufen darf – das gilt dann auch nicht. Quasi: verschenktes Jahr, so kam es uns ja ohnehin vor. Ich kann pünktlich bis zum 1.6.2021 bekanntgeben und fristgerecht anmelden, dass mein Kind – vielleicht ja auch beide – das Jahr lieber freiwillig wiederholen. Dann isses nich so schlimm, alles, sagt der Kultusminister. Sagt die Bildungsministerin übrigens auch, von der ich in den letzten Monaten irre wenig gehört habe. Einzig der Bundesregierung höchstselbst fällt nach X Aufrufen von Psycholog_innen auf, dass wir uns jetzt den Kindern zuwenden müssen.

Kindswohl? My ass.

Es gibt ja so viel Gewalt wie nie in den Familien, und auch unter den Kindern selbst, man nennt das übrigens Kindswohlgefährdung. Aus diesem Grund – wir hören staunend den Gesundheitsminister Spahn – sollen Kinder jetzt vorrangig geimpft werden. Gegen das selbständige Denken vielleicht? Ach nein, die Bildungsministerin Karliczek stellt zusätzlich ein 2 Milliarden Euro schweres „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona“ vor, welches an erster Stelle natürlich den Abbau von Lernrückständen vorsieht. Als könnte das Auffüllen von Wissenslücken, selbstverständlich nur fachlich betrachtet, als Gewaltprävention dienen. Das ist der blanke Hohn, Frau Karliczek. Von Kindswohl ist da nicht die Rede, obwohl der Begriff stets bemüht wird. Das ist der blanke Hohn, Frau Karliczek!

Leute, wie schlimm geht es Euch eigentlich?

Hört Ihr Euren hilflosen Beschlüssen mal zu? Fragt Ihr bei Lehrer_innen, Vätern, Müttern, Erzieher_innen, Psycholog_innen und ähnlichen Instanzen mal nach, wie sich jene Beschlüsse für die betroffenen Schüler_innen anfühlen? Oder, direkter gefragt: Geht es noch? „Tickt Ihr noch ganz sauber?“, hätte mein Vater jetzt gefragt.
Kinder, die in den letzten 14 Monaten wahlweise Wechselunterricht, Distanzunterricht, Schule, doch-keine-Schule, soziale Kontaktsperren, Urlaubsverbote, ausgefallene Geburtstags- Weihnachts-, Osterfeiern, fehlende Fußballtrainings, nicht mögliche Schwimmstunden, geschlossene Sporthallen, ja sogar erkrankte und sterbende Familienmitglieder vorfanden, und sich 14 Monate an Maske-Hygiene-Abstands-Regeln hielten, stellen jetzt fest: All ihre Bemühungen waren umsonst. Sie erleben, dass sie von all ihren vorangehenden Generationen verarscht werden – ganz genau.

Ich höre die Reden aus dem Hessischen Landtag zum Thema Kindswohl – es heucheln abwechselnd CDU (Claus: “Wir haben in der Corona-Zeit vor allem Kindern und Jugendlichen viel zugemutet.“), SPD (Gnadi: „Der Schutz von Kindern und Jugendlichen ist eine der wichtigsten Aufgaben.“) und FDP (Schardt-Sauer: „Wir verurteilen jede Form von Gewalt an Kindern und Jugendlichen.“), dass wir jetzt bitte alles tun, um die Kinder zu schützen, die LINKE (Böhm) stellt gar fest, dass es „ganze Regionen ohne Kinder- und Jugendpsychiater gibt“. Ja isses denn…?

Schüler*innen, die

a) den rein inhaltlichen Schulstoff des vergangenen Schuljahres nicht verstanden haben und deswegen nicht lernen konnten, die vielleicht keine muttersprachlich deutschen Eltern zu Hause haben, die ohnehin ausreichend oft auch sozial nicht genügend ausreichend integriert sind. Oder
b) im letzten Jahr unter Depressionen und Ängsten litten, deren Eltern vielleicht daran auch litten oder leiden; die sich nicht motivieren konnten in Distans- und Online-Unterricht. Oder
c) Gewalt und Missbrauch erlebten, psychischer oder physischer Natur, weil sie das „kleinste Zahnrad“ im Getriebe der Familie sind, mit Mutter und/oder Vater in Existenzängsten, vielleicht auch wegen z.B. viel zu kleiner, überteuerter Wohnungen, die sich Familien kaum leisten können. Familien, in denen alle mitarbeiten müssen, mit Vätern, die ihren ohnehin schlecht bezahlten Arbeitsplatz verloren haben und Müttern, denen dasselbe droht.

Ja PECH!

Diesen Kindern sagt unsere Regierung, sagen Politik und Wirtschaft: Dann ISSES HALT SO. Das Jahr war umsonst, Ihr hattet Ängste und wart brav und still, wir machen jetzt weiter. Wir feiern den „Sieg“ über ein Virus, und wissen dabei genau, dass das ein Trugschluss ist. Es gibt keine Konzepte für eine Post-Corona-Gesellschaft. Ihr, liebe Kinder, Ihr werdet den Laden schon aufräumen, oder aber nicht … nach uns die Sintflut.

Die Kinder dürfen zurückgehen. Geheuchelt aufgehübscht nennt man das – pädagogisch und politisch korrekt – „verweilen“. Unter den Kindern, die weitergehen – unromantisch weiter getrieben werden – sind dann jedoch
Schüler_innen, die
d) keine jahrgangsgerechte Klassenfahrt erleben dürfen, weil sie in der bereits vergangenen Stufe hätte stattfinden müssen. Oder
e) kein Berufspraktikum machen konnten, um sich für ihre Zukunft zu orientieren. Oder
f) in der ganzen Corona-Zeit kaum soziale Kontakte hatten. Oder
g) in ihrem Leben nie schwimmen lernen werden, weil schwimmen nunmal genau in diesem Jahr unterrichtet worden wäre …

Totalausfall

Sucht Euch was aus, unserer Phantasie sind da wenig Grenzen gesetzt. Es gibt in diesem Schreiben unseres Kultusministers ausschließlich verlierende Kinder, vom Frust der Eltern und Lehrer_innen, die allesamt abgehetzt, angestrengt und so manches Mal verzweifelt den letzten Geduldsfaden gesucht haben, wollen wir hier gar nicht anfangen.

Da sind wir nicht zuständig

Wirklich? KEINE KONZEPTE, außer dem, nicht mal halbherzigen, Versuch, alles schnell wieder zurückzudrehen. Wir haben da eine Überraschung für Euch: Zurückdrehen is nich, nicht mal beim Verweilen. Im Prinzip ist schon der Begriff eine Unverschämtheit. „Verweile doch, Du bist so schön.“ ist ein Zitat aus dem Schlussmonolog von Goethes Faust. Der hatte jedoch zuvor die Vision einer besseren Welt. Davon kann bei der derzeitigen Regierung bundes- wie landesweit so gar keine Rede sein.

Ich habe also mit ein paar Lehrkräften und Eltern, Kolleg_innen in therapeutischen und präventiv-gesundheitlichen Zusammenhängen und sogar mit Kindern gesprochen. Kinder, die es unfassbar finden, dass sie jetzt aus ihrem winzigen verbliebenen Freundeskreis gerissen und in eine für sie gefühlt ganz und gar unwägbare Situation geworfen werden, aber auch Kinder im Teenageralter, die trotz des Verweile-Etiketts mit Sorge auf ihre berufliche Zukunft blicken. Schülabgänger_innen, die in 2021 keine Ausbildungsstelle finden werden, weil die Betriebe selbst – aus Gründen der Planungsunsicherheit – nicht ausbilden wollen, aber auch Schüler_innen, die zwar intellektuell gut und gerne eine Klasse höher gestuft werden dürfen, denen jedoch emotional ein Jahr des Verweilens gut täte und deren Lehrkräfte ihnen dies gern, im gewohnten Umfeld, ermöglicht hätten.

Unser Vorschlag: Lasst uns alle Verweilen.

Prompt hören wir die kapitalistischen Sparfüchse: „Also, aber woher sollen denn die Lehrkräfte kommen, und wer soll das eigentlich bezahlen?“ Kurz zur Erinnerung: Unsere Regierung beschließt ein Rettungspaket von 9 Milliarden (Das ist eine 9 mit neun Nullen: 9.000.000.000!) Euro für die Unterstützung einer einzigen Fluggesellschaft, und alle finden das voll ok. Und obwohl das mehr als viermal soviel Steuergeld ist wie das – wohohooo – Aktionsprogramm zugunsten der Kinder, gehen damit nicht einmal Garantien zur Arbeitsplatzsicherung einher. Diese absurd hohe Summe dient also ausschließlich einem Einzelunternehmen, und den Aktionär_innen, deren Existenzbedrohung wir ohnehin in Zweifel ziehen.

Wir rechnen das mal durch

Es gibt in Deutschland ca. 33.000 allgemeinbildende Schulen, von denen etwa die Hälfte Grundschulen sind. Sollten wir das Verweilt-doch-Modell durchführen wollen, braucht es pro Grundschulklasse etwa drei pädagogische Kräfte. Nun wurden im letzten Jahr etwa 750.000 Schüler_innen eingeschult, was bei einer Klassenstärke von durchschnittlich 25 Kindern einen Mehrbedarf von 30.000 Menschen ergibt.

Wir benötigen 30.000 Personen. Jaaaa stimmt, so viele Lehrer_innen finden sich nicht an der nächsten Straßenecke. Braucht es auch gar nicht. Die Kinder pfeifen auf ausschließlich fachlich qualifiziertes Lehrpersonal für Deutsch, Mathematik, Englisch, Sachkunde, Religion, Erdkunde, Geschichte oder Sport. Ein Teil der Schüler_innen hat fachlich sehr wenig verpasst, denen würden ganz andere Dinge helfen: musizieren, singen, lachen, Yoga, Waldspaziergänge, Projekttage, basteln, kochen, nähen, stricken, malen, schweigen, schwimmen, laufen, radfahren, gärtnern und viele Dinge mehr; Dinge, die zur Verarbeitung der Umbrüche und Versäumnisse des letzten Jahres beitragen, und somit alles, was den Kindern hilft sich auszudrücken. Achtsamkeit mit sich selbst und mit anderen, soziale Projekte und eine Menge Zuwendung nach den Monaten der Rücksichtnahme und Isolation. Kreativität als Hauptfach – alles andere ist „der Rest“.

Wir brauchen im Grunde genau diejenigen, die in der Pandemie ebenfalls existenziell bedroht waren und sind: Soziolog_innen, Vorleser_innen, Yoga-Lehrer_innen, Künstler_innen, Sänger_innen, Musiker_innen, Zirkusartist_innen, ja, sogar Gastronom_innen und Schauspieler_innen. Es gäbe die Möglichkeit in den Klassen all das zu lernen, was fachlich notwendig ist, und dennoch den emotionalen und sozialen Bedürfnissen der Kinder endlich gerecht zu werden.

30.000

Diese 30.000 Personen bräuchten, schulseitig für ein oder zwei Jahre angestellt und damit existenziell abgesichert, etwa 3000 Euro monatlich. Das macht über zwei Jahre ca. 2 Milliarden Euro, mit denen eine ganze Generation unterstützt würden. Wo hatten wir diesen Betrag gleich nochmal gelesen? Abgesehen davon wären die betroffenen Menschen sozial abgesichert und stünden in keiner Arbeitslosenstatistik (und das mag die Agentur ja). Die Einsparungen, die man staatsseitig erzielen könnte, wären ebenfalls einzukalkulieren. Es bedürfte keiner Anträge einzelner Eltern, es profitierten einfach alle: Kinder, Pädagog_innen, Eltern, Familien, die Gesellschaft, ja am Ende sogar die Wirtschaft. Verrückter Gedanke!

Rise!

Dies hier ist ein Appell an alle Eltern, Lehrer_innen, Schüler_innen und an alle, denen die Zukunft der nachfolgenden Generationen irgendwie am Herzen liegt: Steht auf! Schreibt Verweil-Anträge für jedes einzelne Kind, jeder Jahrgangsstufe, jeden Entwicklungsstands. Diese Generation läuft Gefahr ein gemeinschaftliches Trauma zu entwickeln. Verweilen wir doch alle mit unseren Kindern und gestalten die Vision einer besseren Welt. Wie auch immer die aussehen mag.