Es gibt Häppchen

Ich mag Musik. Ich meine, wer nicht? Es ist ja nicht so, dass nur DJs oder Musiker sich gerne mit Sätzen wie „Ohne Musik wäre mein Leben sinnlos“ oder dem berühmten „Music was my first love…“ zitieren lassen. Viele Menschen würden einen solchen Satz unterschreiben. Und deshalb ist es um so bedauerlicher, dass Musik uns seit Jahren im TV und sogar im Radio in kleinen, äußerlich schnell essbaren, inhaltlich dann aber doch unverdaulichen Häppchen kredenzt wird. „Sie mag Musik nur, wenn sie kurz ist!“

Die schlimmsten Täter dabei sind ausgerechnet jene Shows, die sich angeblich genau ihr, der Musik, verschrieben haben. Angeblich, wie gesagt, denn wenn man den Mist anschaut und vielleicht sogar der einen oder anderen relativ neuen Entwicklung aufsitzt, ist offensichtlich, dass es um manches geht aber sicher nicht um Musik. Und das obwohl und weil Musik in Shows allgegenwärtig ist. Es ist wie Fernsehen für Hörgeschädigte mit Parkinson im Finger an der Fernbedienung: Bloß kein Sekündchen, das nicht mit irgendeinem Schnipsel Musik unterlegt ist, jemand könnte auf die Idee kommen, es sei Sendepause – und umschalten.

Ich gebe ja zu, dass das Geschwätz der wahnsinnig hippen Moderatorinnen und Moderatoren im Interview mit Tällents Muddi unerträglich ist. Aber es wird nicht anspruchsvoller, wenn darunter Aviciis Levels hämmert (ein total überschätzter Titel übrigens, wenn man Love kennt). Vielleicht käme etwas hörbares heraus, wenn man die Lautstärke der beiden Spuren umkehrte. Das wäre mal wirklich was Neues in all dem, was so tut, als sei es das. Man sollte meinen, ich müsste über DSDS an dieser Stelle nichts mehr schreiben, aber irgendwie fing der neubelebte Casting-Terror ja damit an. Dass es hier nicht um Musik ging ist offensichtlich. Es gab/gibt tränenrührige Home-Stories, Idioten, die sich in Castings nicht scheuten, sich zu denselben zu machen und die musikalischen Aldi-Brüder Bohlen und Stein (wobei der Zweitgenannte längst irgendwelchen Irgendwers weichen musste). Das eigentlich Erstaunliche hier ist, dass dieses tote Pferd noch immer geritten wird – mit Marianne und Mieze nach Kuba, dieses Mal. Wenigstens löst der kalte Schauder bei diesen Neuigkeiten Gänsehaut aus – die Musikschnipsel sind dazu ungeeignet.

Dieser Show ihre Verbrechen an der Musik vorzuwerfen ist, als erwarte man tatsächlich Talent bei der Super-Heulsuse. Popstars? Selbe Scheiße, andere Sender-Fast-Food-Kette. Da nichts davon wirklich ernst zu nehmen ist, muss man die jüngeren Auswüchse dieser Kinder-Musik-Zoos um so heftiger ins Visier nehmen, denn vor wenigen Jahren begannen diese so zu tun, als ginge es plötzlich eben doch um Musik.

Verbrecher Nummer 1: X Factor. Hat es die RTL-Gruppe mit den Juroren/-innen Sarah Connor, Tim Brönner und George Glueck noch geschafft, mein Interesse zu wecken und mich mit der Gewinnerin Edita Abdieski auch irgendwie glücklich gemacht, war spätestens nach Ende der ersten Staffel das mit dem Ernstnehmen vorbei. Erinnert sich noch jemand an Edita? Oder an David Pfeffer? Und wer hat eigentlich die dritte Staffel gewonnen? H.P. Baxter? Was angetreten war, musikalische Talente mit dem X-Faktor zu finden, verheizte junge Musikerinnen und Musiker genauso am Fließband, wie alle Vorgänger. Mit dem Unterschied, dass man in den anderen Casting-Shows meist wenigstens noch die Sieger/-innen der ersten Staffel kennt und das Verbrennen erst ab Staffel zwei begann. (Ausdrücklich ausgenommen sei hier Stefan Raab, dessen tatsächliche Talente von ihm und seinen Firmen immer auch nach der Show noch gefördert wurden und werden.)  

Verbrecher Nummer 2 – und das jüngste Kind im Singsang-Äffchenzirkus – The Voice of Germany (TVOG): Als diese Show losging, überschlug sich die Presse mit Lob. Auf den ersten Blick war das berechtigt, verzichtet TVOG doch gänzlich auf die Vorführung offensichtlich vollkommen talentfreier Tällents und beschränkt sich auf das Herumzerren solcher, denen man tatsächlich zuhören möchte, wenn sie im öffentlichen Raum singen. Sollte de Mol plötzlich den Menschenfreund in sich entdeckt haben? Die Abkehr von Big Brother? Nö! Auch das Show-Fließband geht mit der Zeit und macht nun eben TVOG und Circus Halligalli – nur beim Zweiteren steht dran was drin ist. Vom Verzicht auf die Vorführung vollkommen schmerzfreier Idioten abgesehen nämlich, unterscheidet sich The Voice in nichts von anderen Castingshows: Jeder Millimeter im Ablauf ist von de Mol durchgestaltet, Abweichungen sind unerwünscht, es gibt dieselben *ach Gott die Ärmsten* Heulsusen-Homestories und man fragt sich auch bei The Voice, wer beim Heraussieben der nicht-so-talentierten Tällents den Hut auf hat: Die Kootsches? Die Wohkel-Kootsches? Das Publikum (Anrufe aus dem Mobilfunknetz wesentlich teurer)? Oder doch ein paar Produzenten im Hintergrund, die den puscheligen Rotschopf mit den Millionen Klicks bei YouTube eben doch lieber im Finale sähen, als jemanden, der tatsächlich singen kann, sich bedauerlicherweise aber nicht massentauglich benimmt. Achja, diese Künstler. Polarisieren darf hier nur, wer im Drehstuhl sitzt, nicht die Hampelmännchen und -frauchen auf der Bühne. Ob Ivy Quainoo auch dann die erste Staffel gewonnen hätte, wenn Obama weiß wäre?

Aber zurück zum Kern: Denn dass hier Musik als Etikett missbraucht wird, um Menschen und ihre Geschichten zum Spannen freizugeben, ist der eine Teil der Vergewaltigung ihrer durch das Fernsehen. Schlimmer noch ist der tatsächliche Umgang mit dieser Kunst: Sie wird zerhackt, verkürzt, gefickt, gefressen und ausgekotzt. Ausnahmslos jeder Moment dieser Shows erbricht Musikbröckchen. Wer das Glück hat, Titel noch in ihrer vollen Länge zu kennen, weil sie nicht irgendein Formatradiospacken um eine Strophe erleichtert hat (das muss doch schneller gehen), erlebt hier, wie die Coverversionen auf ein bis zwei Minuten zusammenschrumpfen. Strophen fehlen, Refrains fehlen, Soli? Bridges? Fehlanzeige. Die Werbeblöcke sind verkauft, für respektvollen Umgang mit Musik ist keine Zeit. Und hetzt sich mal kein Tällent durch die Makroversion eines Songs, wird unterlegt – gnadenlos alles und mit jedem Schnitt neu. Irgendwas siffig-schleimig-trauriges, wenn Tällent über dem Bild des verstorbenen Cousins siebten Grades heult und was schmissiges, für den Weg aus dem Backstage-Bereich auf die Bühne – gerne was aus Rocky oder die Miami-Vice-Theme z.B. Und bei Standing Ovations natürlich irgendwas bombastisches: Queen vielleicht oder Vangelis oder Ultravox – was mit ordentlich Orchester- oder Synthi-Bumms, meinetwegen auch Beethoven oder Jean Michel Jarre – austauschbar, wertlos, passen muss es. Hört man, wie Whitney Houstons Musik in diesen Zusammenhängen missbraucht und zerpflückt und immer wieder in kotzgerechten Häppchen serviert wird, macht ihr Drogenmissbrauch plötzlich wieder Sinn. Und wenn die Zeit selbst für ein Musikkotzbröckchen nicht reicht, dann muss mindestens noch ein „Schumm“ oder „tiktak“ oder sonst ein atmosphärischer Jingle her, während gefühlt 200 Scheinwerfer den Schwenk von der Bühne weg hin zur – natürlich total hingerissenen – Jury machen. 

Der aktuelle Umgang mit Musik gehört sich nicht. Wer keine Zeit hat, Musik zu hören, der möge es lassen – und bitte schon gar keine senden. Selbst wenn viel des aktuellen Popschrotts kaum als Kunst betitelt werden kann, gibt es noch immer – zum Glück – genug Titel und Künstler/-innen, die berühren können, die das machen, was Musik eben mit jenen tun kann, die sich darauf einlassen – aber das geht nicht in Häppchen. Wenn für nichts mehr Zeit ist, das uns berühren könnte, dann sollten wir konsequenterweise alle Gemälde von van Gogh oder Picasso in so viele Schnipsel zerschneiden, wie eben nötig sind, um sie als ein einziges Bild auszustellen – man hat ja dann auch alles gesehen, es dauert nur nicht so lang. Und wenn man die Schmonzette aus Titanic rausnimmt, ist der Film auch in 19 statt 194 Minuten gezeigt. 

Ich habe House-Titel (denkt nur an Planet Soul, The Mole People oder I’m ready von Size 9), die dauern über zehn Minuten und benötigen mindestens die mittleren acht davon, um sich zu entwickeln und zu entfalten. Sie zu verkürzen ist ein Verbrechen an der Musik. Selbst das eingangs zitierte Music von John Miles ist ca. sechs Minuten lang. Lebt damit oder hört weg. Und dabei habe ich von der meist in Werbung missbrauchten Klassik noch gar nicht gesprochen!

PS: Kein Wunder saufen sich die Kids in kürzester Zeit ins Koma, wenn sie glauben, zum Tanzen sei so wenig Zeit.

PPS: Parallel entwickelt sich ein Kochwettbewerbswahnsinn, bei dem ebenso der Appetit vergeht. The Taste z.B. ist wie The Voice, nur mit schlucken – also wie The Voice.