Wir nennen es Fortschritt
Da sitzt sie nun, die Krone der Schöpfung, nach eigenem Ermessen bestenfalls auf vielen Quadratmetern leeren Raums um sich herum, und findet’s gut. Die Vereinzelung nennt der freie, unabhängige Bewohner der ersten Welt Individualität und er glaubt an die Adjektive frei und unabhängig. So ein Quatsch!
Die Tatsache jedenfalls, dass wir in immer kleineren Gemeinden, mit immer größerem Bedarf am Eigenen, überflutet von Informationen und Ablenkung, allein bis zu viert in unseren hermetisch verschlossenen Habitaten leben, bezeichnen wir als fortschrittlich – als das Leben im 21. Jahrhundert wie es sein soll. Dabei genügt es uns nicht, Kreaturen auszubeuten, die mit weniger Sprache gesegnet sind. Unser Fortschritt basiert ebenso auf der Ausbeutung der eigenen Gattung und bietet gleichzeitig die nötige Ablenkung, um sich dessen nicht bewusst zu sein. Ganz fortschrittlich bedienen wir uns unserer Smartphones und des Internets, um uns mit so bahnbrechenden Informationen zu versorgen wie denen, dass Politiker lügen und willfährige Marionetten von Großunternehmern und -banken sind – wie überraschend. Wir schauen Casting-Shows und Doku-Soaps und lassen uns – mit einer Träne im Knopfloch – Menschen vorführen, die es nicht geschafft haben. Menschen, die trotz allen Fortschritts sogar in der ersten Welt am Rande des Nervenzusammenbruchs und inmitten grässlicher Verhältnisse leben und die wir nicht auffangen wollen. Wie fortschrittlich. Aber zum Glück und Fortschritt gibt es ja Vera Int Veen und Dieter Bohlen, die hin und wieder Gestrandete retten und die uns damit ebenso fortschrittlich wie erfolgreich vom tatsächlichen Elend ablenken – vom Elend derer, die unseren Fortschritt bezahlen, auch mit ihrem Leben.
Wobei, einmal im Jahr pro Senderkonsortium ist es uns ja gestattet, auf das Elend der dritten Welt zu schauen (bei der zweiten wissen wir ja selten, ob wir nun applaudieren, bombardieren oder Waffen liefern sollen). Da gibt’s dann rote Nasen und Spendenmarathons und einen kleinen Ausblick dorthin, wo der lange Arm des Fortschritts nicht ankommt und ggf. von Clans abgehackt wird, wenn er mit Hubschraubern die Slums überfliegt.
Aber – ach – warum sollte ich ausbreiten, was wir ja doch alle wissen? Schnell zurück in unser fortschrittliches Leben in Hülle und Fülle, wo alles fortschrittlich, modern und tippitoppi ist. Wo jeder noch so kleine Haushalt mindestens zwei Autos besitzt und Menschen ohne Führerschein sich schon fragen müssen, ob sie sich als vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft begreifen dürfen. Denn wehe dem, der nicht mithält, dem die Schlagzahl zu hoch ist oder der für sein Leben eine andere Idee benötigt, als die, die weit verbreitet ist und als fortschrittlich gilt. Denn wo soviel Fortschritt ist, ist auch viel schneller ein Defizit bzw. Dinge, die „normal“ sein sollten und dürfen, gelten als defizitär.
Als fortschrittlich gilt, sich von sozialem Umgang befreit im eigenen Auto, früh und ohne gesicherte Aussicht auf Feierabend, zur Arbeit zu begeben. Nicht ganz so glückliche Mitglieder des fortschrittlichen Lebens sind gezwungen, sich in öffentlichen Verkehrsmitteln fortzubewegen. Dem Fortschritt sei dank, sind aber auch diese nicht gezwungen, sich mit ihren vielfältigen Gegenübers auseinanderzusetzen. Wer die Hände nicht am Steuer des eigenen KFZs hat, der kann fröhlich in sein Smartphone tippen oder die Wiedergabelisten seines iPods sortieren. Ein Pferd mit Scheuklappen sieht mehr von der Welt. Und während die Gehörlosigkeit als Behinderung gilt, ist die ständige Eigenbeschallung per MP3 hip. Und führe ich mir vor Augen, dass das noch die „gute“ Option ist, möchte ich auf der Stelle reichlich defizitär verrückt werden. Denn um uns herum leben Menschen, die gäben einen Arm dafür, überhaupt an dieser Art des sich miteinander/ohne einander Fortbewegens teilhaben zu dürfen. In einem der reichsten Länder der Welt sind Menschen, die sich nicht einmal die Reise in öffentlichen Verkehrsmitteln leisten können, oder sich dies finanzieren, indem sie an Ampeln die Frontscheiben der durch Benzin betriebenen Vereinzelung putzen – und ich gelte als Zyniker.
Das Wichtigste am durch Fortschritt getriebenen Leben des 21. Jahrhunderts aber scheint zu sein, dass es arbeitsfähig ist. Folgerichtig erforschen wir Möglichkeiten, den Alterungsprozess möglichst aufzuschieben und – falls das Biest sich nicht aufhalten lässt – wenigstens zu kaschieren. Wer es sich leisten kann, der lässt sich die Brüste per Implantat vom Knie zurück auf Brusthöhe heben, sich jede Emotion aus der Stirn spritzen und sich Fett aus dem Arsch in die Lippe bugsieren. Dass die dabei entstehenden Fratzen tatsächlich als etwas gelten, das Menschen gerne haben möchten, ist mir unerklärlich.
Und folgerichtig, ist es gesellschaftlich denn auch gewünscht und anerkannt, dass man arbeitet, bis der feine Herr Sensenmann die Bemühungen höchst persönlich abbricht. Die neue Lieblingsalliteration der überalterten Gesellschaft ist der rüstige Rentner. Der trägt noch bei, der bestellt noch seinen Kleingarten und der kostet auch niemandes sauer verdientes Geld. Es wäre sowieso zuerst sein eigenes dran. Warum auch nicht? Wer 40–50 Jahre gebuckelt und dem Staat dessen Teil abgetreten hat, dem ist sicher leicht beizubiegen, dass nichts zum Vererben übrig bleiben wird, wenn er sich nun noch 20 Jahre auf Staatskosten in einem Heim verwalten lässt.
Vielleicht verstehe ich den Begriff Fortschritt ja überhaupt ganz falsch und fort ist gar nicht im Sinne von „voran“ sondern im Sinne von „weg“ gemeint. Weg von allem, was uns zu einem Teil unserer natürlichen Umgebung macht und weg von einander. Weg vom Rudel, weg vom Altern und vor allem weg vom Leben, das noch Zeit für Muse, Freiheit und Leidenschaft hat.