Kapitalismus, Du scheues Reh

Am lustigsten finde ich das herrschende System immer dann, wenn ich davorsitze und denke: Das ist jetzt nicht euer Ernst… Und wer bisher noch dachte, zu klein zu sein, um irgendetwas zu erreichen, möge sich die Wirkung des Coronavirus’ anschauen.

Ich kann mich ja nur wiederholen, aber dafür, dass man uns beibringt, wir lebten in stabilen Verhältnissen und lecker in Sicherheit, braucht’s nicht eben viel, um den ganzen Laden in Panik ausbrechen zu lassen. Die Märkte, die wir ja nicht verunsichern dürfen, sind offenbar ein wirklich hysterisches Häuflein. „Die Ausbreitung des Corona-Virus wird der deutschen Wirtschaft in diesem Jahr erheblich zusetzen“, sagte DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier (tagesschau.de).

Panikkäufe
Aktuell kursiert im Internet die offizielle Zahl von ca. 85.000 Fällen des Coronavirus weltweit – also Infizierte, nicht Todesfälle. Bei einer Weltbevölkerung von ca. 7,75 Milliarden Menschen liegt deren Anteil also bei ca. 0,00001. So. Und wenn ich die Nullen mal zähle, dann reden wir hier nicht über Prozent, nicht mal über Promille, wir reden über ppm (parts per million). Eine Maßeinheit, die man eigentlich aus der Chemie kennt. Und in Anbetracht jener schier unglaublich großen Zahl drehen die Börsen ebenso durch, wie die Prepper (das sind jene Schwachköpfe, die sich auf den Untergang des Abendlandes vorbereiten und entsprechende Mengen Dosenfutter, Waffen, Munition, Todeslisten und Leichensäcke in ihren Bunkern horten).

Prepper und Märkte
Letztlich finde ich, dass hier zusammenkommt, was zusammengehört: Verschwörungstheoretiker, die sich in ihre Keller zurückziehen und Ravioli futtern, sobald der Nachbar beim Husten Auswurf hat, und Kapitalismuspraktiker, deren Lieferketten mittlerweile so (höhö) optimiert sind, dass sie zusammenbrechen, wenn am anderen Ende der Welt jemand Auswurf hustet. Es ist witzig oder auch zynisch, dass solche Lieferketten nicht als fragil sondern als effizient bezeichnet werden. Darin zumindest ist er ja gut, der Kapitalismus, im Verklären von Begriffen und Zuständen. Mit Vernunft kommt man dem nicht bei. Und mit Vernunft ist eben auch nicht erklärt, warum die Ersten jetzt einen größeren Crash an den Börsen vorhersagen, als bei der Pleite der Lehman Brothers. Der Crash damals erschloss sich mir schon nicht (ich bin hier aber auch kein Fachmann oder wollte einer sein) und jetzt, mit einem Millionstel Infizierter, schon gleich gar nicht. Das hat mit Vernunft nichts zu tun, nichts mit Intelligenz oder Aufklärung und auch sonst mit keinem menschlichen Verhalten. Es ist ein entfesselter, nur in sich selbst erklärbarer Prozess. Und erst der, also erst dessen immanente Panik, hat das Potenzial tatsächlich weltweit für Zustände zu sorgen, in denen Prepper sagen können: Haben wir immer gewusst. Der Coronavirus ist hierfür nicht der Auslöser.

Systemische Unvernunft
Und wo ich von Intelligenz und Aufklärung schreibe: ich wünscht, die wären noch um uns und wichtig. Stattdessen ist der Irrsinn derart tief implementiert, dass die Panik der Prepper und Märkte bei gerade mal 27 bestätigten Fällen in Deutschland nun auch die deutsche Bevölkerung erreicht. Und das heißt? Es heißt, dass tatsächlich Hamsterkäufe getätigt werden und eine Aufrüstung mit Atemmasken beginnt. Atemmasken, die Manifestation der Dummheit der Kapitalismusgläubigen. Die kann man als Accessoire mögen, über Geschmack streite ich nicht. Nur in Sachen Coronavirus sind sie vollkommen nutzlos. So sinnhaft, wie Facebook zu nutzen und den AGB zu widersprechen. Es bedarf ca. 3 Millisekunden selbständigen Denkens und des Wunsches sich schlau zu machen, um zu wissen, dass Corona per Tröpfchen übertragen wird, nicht durch die Luft. Wäre lustig, es fiele den Paniker*innen auf und sie bewegten sich fortan folgerichtig in Ganzkörperkondomen.

Das System besiegt sich selbst
So also möchte die so genannte westliche Wertegemeinschaft leben. In vorgegaukelter Sicherheit und mit den Zielen Wachstum und Wohlstand. Wobei schon Volker Pispers richtig zusammenfasste: Natürlich kann jeder reich werden, aber doch nicht alle. Es ist absurd, dass den Evangelists unserer kapitalistischen Gesellschaft selbst dann nichts auffällt, wenn ihnen ihr System um die Ohren fliegt. Und das ganz ohne irgendeine Revolution oder anderes aufständisches Treiben. Die winzigste Störung der globalen Lieferketten sorgt ernsthaft für Börsencrashs und andere Formen der Panik. Ich frage mich, wie das wahr sein kann und ich wundere mich, wieso man daran festhalten will?

Ich meine: Wirklich? So soll das weitergehen?
Das System verträgt es locker, wenn im Amazonas und in Australien Wälder abgeholzt werden und abbrennen? Es verträgt, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil man sie bei der Flucht vor Krieg und Folter nicht unterstützt? Es verträgt, dass syrische Kinder in Flüchtlingsunterkünften erfrieren und verhungern, weil sich niemand zuständig fühlt? Aber wenn bei einem asiatischen Zulieferer mal drei Arbeitskräfte ausfallen, dann ist Zusammenbruch/Aufruhr/Zeter und Mordio? Dann erweisen sich all die hoch gelobten Früchte der Globalisierung als vergiftete Äpfel und keine der „Der Markt regelt das“-Lösungen greift mehr? Wie schlimm muss dieses System in sich selbst versagen, bis wir darüber hinwegkommen? Ich verstehe das nicht und es mündet in die eine logische Frage:

Wenn all das so fragil ist, warum haben alle solche Angst davor, mal was anderes auszuprobieren?