Verrohung? Schön wär’s.
Man hört und liest ja stets über die Verrohung im Netz, und ja, die Rechte dreht kräftig an diesen Parametern. Aber so insgesamt kommen uns doch eher die Begriffe Verblödung und Verweichlichung in den Sinn, wenn wir über Auseinandersetzungen in Social Media nachdenken.
Im Netz ist ja jede_r wichtig und hat die Deutungshoheit. Dabei ist auch egal, ob das irgendwie fundiert ist, ob es glaubwürdige Quellen gibt (ob „glaubwürdig“ vielleicht auch Ansichtssache ist) oder ob sonst eine Grundlage vorliegt. Dabei haben wir gar nichts gegen Meinung. Wir sind weder Sozio- noch Psychologen, und also werden wir unsere Wahrnehmungen auch nicht stets wissenschaftlich untermauern. Unsere Wahrnehmung könnte also Grundlage für eine Debatte sein. Könnte…
Bok BOOOOOOK bok bok – und weg.
Was im Netz stattdessen immer häufiger passiert ist, dass das Infragestellen einer Behauptung als persönlicher Angriff und selbstverständlich als vollkommener Käse abgetan wird, bevor das Gegenüber die Diskussion grußlos verlässt. Ja, okay, Du hast mich missverstanden… – hat Dich geblockt. Das absolut Verrückte dabei ist: Nicht einmal eine persönliche Bekanntschaft schützt davor, in sozialen Medien so behandelt zu werden, und so spielt derlei auch zurück ins tatsächliche Leben. Ja nehmt doch alle mal den Fuß vom Gas.
Wichtig statt gutmütig.
Man könnte ja zur Kenntnis nehmen, dass z.B. ein Twitter-Kommentar in seinen Zeichen begrenzt ist und also manchmal der noch so ambitionierte Versuch zu differenzieren fehlschlägt. Auch könnte man zur Kenntnis nehmen, dass Ironie und Witz nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen sind, obwohl wir im Zweifel lieber drei Smileys zu viel hinter einen Satz machen, als einen zu wenig. Stattdessen nehmen sich im Netz offenbar alle derart wichtig, dass allein ihre Interpretation des Geschriebenen gültig ist – nach einem ersten Lesen – und sofortigstens korrigierend beantwortet werden muss. ICH hab das so gelesen, ICH sag Dir, so ist und so geht das nicht. ICH bin dann mal weg. Ein wenig mehr Großmut, ein wenig Geduld und zumindest der Anspruch, das Geschriebene ordentlich zu lesen, es sich bestenfalls ein- bis zweimal durch den Kopf gehen zu lassen und dann erst zu antworten – das wäre die simple Lösung, scheint aber mittlerweile undenkbar. Übrigens ebenso undenkbar wie eine Beruhigung, falls man selbst noch einmal auf das Gegenüber zumacht und versucht die Wogen zu glätten. Streit in so genannten sozialen Netzwerken ist mit einer Endgültigkeit versehen… Drin/draußen, schwarz/weiß, rumms/bumms.
Vonne mods Gedrommel…
un hinne kaa Soldade. So hat es ein leider vor geraumer Zeit verstorbener Nachbar von uns mal beschrieben (wobei er sich nicht auf das Netz bezog). Also „Große Fresse und nix dahinter“. Denn selbst ein Missverständnis oder eine ruppige Antwort wären ja gar nicht schlimm. Sowas passiert im Eifer des Gefechts. Wir er- und vertragen sowas gut. Unser Verständnis endet allerdings dort, wo eine hitzige (oder nicht hitzige) Debatte einfach verlassen wird. Die Missinterpretation ist verkündet, die eigene Meinung die richtige und wichtige, die Quelle unfehlbar, es gibt nichts mehr zu besprechen. Nein Schatz, so wichtig bist Du nicht. Du behandelst mich aber wie Dreck, wenn Du mich hier einfach stehen lässt. Und – ganz ehrlich – solches würden sich diese Weicheier_innen im realen Leben nicht trauen. Wenn ein Gespräch nicht vollkommen verfahren ist (auch das gibt es ja), dann steht man doch nicht auf und geht. Im Netz scheinbar schon. Feiglinge!
Roh
Wer übrigens wissen will, wie man durchaus ruppig und dennoch respektvoll miteinander umgehen kann, sollte mal nach dem „Guten-Morgen“-Thread in unserer Twitter-Timeline schauen. Da geht’s zur Sache, da wird geschennt, geschimpft, beleidigt… und niemand ist sauer oder blockiert plötzlich großflächig. Das ist der Ton da, das ist Konsens und tatsächlich genau dort, in genau derart ruppigen Zusammenhängen, ist es vollkommen möglich verschiedener Meinung zu sein, ohne sich einfach aus der Debatte zu verpissen. Und schlägt tatsächlich jemand über die Stränge, fängt man sie oder ihn wieder ein, alle kochen runter, Missverständnisse werden aus dem Weg geräumt und danach nennt man sich wieder sachgemäß „Du Arschloch“. Eigentlich ganz einfach.
ICH MICH MEINS!
Theoretisch ganz einfach. Praktisch müsste man sich dafür selbst ein wenig zurücknehmen. Einfach mal annehmen, dass man die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen habe und dass die eigene Haltung unter Umständen ein paar Korrekturen vertrüge. Angesichts der vielen im Bildungssystem gesparten Milliarden sollten viel mehr Leute davon ausgehen, dass sie die Weisheit nicht zum Frühstück bekamen. So läuft’s nur leider nicht. Und schließlich sammelt man Klicks und Likes ja nicht mit fundierten Informationen, sondern mit groben Headlines. Und aus Klicks und Likes leitet sich – offenbar zwangsläufig – die Deutungshoheit ab. Widerspruch ausgeschlossen, guck auf meine Likes, ich hab Recht.
Wer differenziert verliert.
Ach ja, differenzieren… noch so ein Teil Debattenkultur, der im Netz über Bord geworfen wurde. Mal eine zweite Sicht auf die Dinge wenigstens zulassen, sich mit ihr auseinandersetzen, dies das, Ihr wisst schon. Ist leider aus. Und gerade bei Ereignissen wie den aktuellen in der Ukraine ist differenzieren ja gleichbedeutend mit „im Unrecht sein“. Wir sind es so leid, dass wir uns fortwährend erklären müssen, wenn wir Dinge mal von einer anderen Seite beleuchten, dass dies eben noch lange nicht heißt, diese Seite sie die richtige. Wer sich aktuell traut, Putins Aggression als Strategie zu bezeichnen oder laut fragt, ob er möglicherweise auch ein stabiler internationaler Player ist (mit nur marginalen Unterschieden zu anderen Mächtigen, die ihr Kapital und Territorium vergrößern), kann sich gleich Putin-Versteher auf die Stirn pappen und sich für einen Shitstorm anziehen. Da hat nix mehr mit nix zu tun. Putin böse, Ukraine Opfer, Gespräch beendet. „Aber der ukrainische Nationalismus…“ Block. „Aber die französischen Waffen im Jemen…“ Whataboutism! Block. „Aber die Rolle der NATO…?“ Block. Drin/draußen, schwarz/weiß, rumms/bumms.
Grenzen der Nachsicht
Nachsicht und Zurückhaltung würden uns allen gut tun. Es gibt kein Zeitlimit für einen Kommentar in Social Media. Wenn etwas wichtig erscheint, dann ist es das am nächsten Tag auch noch. Wenn es am nächsten Tag nicht mehr wichtig ist, dann war es das nie und dann ist auch nicht wichtig, es noch zu kommentieren. Dann lehnt man sich einfach zurück und schaut der nächsten Sau zu, die durch’s Dorf getrieben wird. Aber versteht uns richtig, bei all der Nachsicht und Zurückhaltung gilt selbstverständlich weiterhin: Mit Rechten debattiert man nicht. Niemals. Für alles andere gilt: debattiert endlich wieder.